Öffentliche Führung Onkologie
Mittwoch, 8. Januar, 17.30 bis 18.30 Uhr - Ohne Anmeldung
Aktuell profitieren wir davon, in einem der besten Gesundheitswesen der Welt arbeiten zu können – mit den besten Möglichkeiten, unsere Patienten und Patientinnen zu betreuen. Oft sind wir uns dessen im Alltag nicht mehr bewusst, und reagieren auf Veränderungen abwehrend mit unterdrücktem Groll, der summarisch mit von uns nicht geforderten und unerwünschten regulativen Eingriffen in unser Berufsleben zusammenhängt.
Es gibt zahlreiche Punkte, die im ärztlichen Arbeitsalltag schwieriger geworden sind. In unserer letzten Mitgliederbefragung wurde deutlich, dass der Zeitdruck und Zeitlimitationen in der Arzt-Patienten-Beziehung ein grosses Thema sind – ein Kind der eingeführten Minutage im Abrechnungssystem TARMED.
Es verstetigen sich Diskussionen, die sich mit der zunehmenden Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung unter dem Titel „Kostendruck“ zusammenfassen lassen. Nicht ganz erstaunlich geht die Ökonomisierung einher mit einem gigantischen Zuwachs an Ineffizienz, was den Administrativaufwand für die einzelne Ärztin betrifft. Viele der aktuell im Parlament behandelten Vorstösse würden diesen Trend weiter verstärken.
Die ständigen Bestrebungen, Kosten zu dämpfen, setzen explizit darauf, noch grösseren Druck auf die Ärzteschaft auszuüben, und möchten mit noch mehr Regulierung unsere Versorgung ökonomisch optimieren. Uns erwartet also die grosse Herausforderung aufzuzeigen, dass eine gute Gesundheitsversorgung eine Entwicklung bedingt, weg vom Homo oeconomicus, hin zum Homo sapiens.
Ich setze mich für die Anliegen der Ärztinnen und Ärzte ein, indem ich den Verantwortungsträgern in der Politik aufzeige, wie sich ihre Vorhaben auf den Alltag der Patientenversorgung auswirken. Es gilt, mit konkreten Beispielen zu veranschaulichen, welche parlamentarischen Massnahmen in den laufenden KVG-Revisionen unter dem Titel „Kostendämpfungspakete“ hilfreich sein könnten und welche Vorhaben ein grosses Schadenpotenzial beinhalten. Im Vordergrund stehen verschiedene Pläne, politisch gesteuerte Budgets einzuführen. Diese bedeuteten einen Systemwechsel, der uns noch mehr Zeit- und Kostendruck, noch mehr Administration und dazu Wartezeiten und eine Zweiklassenmedizin bescheren würde.
Gleichzeitig helfen wir aber mit, gute Lösungen in der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens voranzutreiben, bewusst auch zu den Kosten. Ein Beispiel dafür wäre der Wechsel zu einer einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen. Generell verlangen wir, dass die Ärzteschaft nicht praxis- und branchenfremd „top down“ reguliert wird, sondern selbstverständlich eingeladen ist mitzugestalten. Historisch gesehen war das lange selbstverständlich. Heute ist dieser Wunsch Vision.
Ärzteschaft und Patienten verstehe ich als Paar, ohne dessen lebendige Beziehungskultur der Beruf der Ärztin gar keine Berechtigung hat. Eine gute Patientenversorgung setzt gute Rahmenbedingungen für die „Versorgenden“ voraus. Medizinstudierende beginnen ihre Ausbildung mit einer intrinsischen Motivation, helfen zu wollen. Es ist wichtig, dass sie in ihrer Berufslaufbahn diese Motivation reflektieren und entwickeln. Nie aber sollten sie sie verlieren.
So gesehen ist der Einsatz für die Anliegen der Ärzteschaft auch im Sinne der Patientinnen und Patienten. Uns ist wichtig, dass Patientinnen nicht einfach als Kostenfaktoren betrachtet werden, und dass im Versorgungssystem die Beziehung zum Menschen in seiner Ganzheit zählt.
Weniger Zeitdruck kann auch ökonomischer sein und unnötige Behandlungen reduzieren. Auch der Kampf gegen eine politisch gesteuerte Budgetierung ist letztlich im Sinne der Interessen von Patienten: Wenn Ärztinnen gezwungen werden zu rationieren, leiden Patienten, weil ihnen Leistungen vorenthalten werden.
Hier gibt es viele und sehr verschiedene Herausforderungen. Sie stehen im Kontext einer sich verändernden Gesellschaft. Da wir Teil dieser Veränderung sind, mangelt es unserer Analyse immer auch an Objektivität und „gesundem Abstand“.
Demografisch und kulturell bedingt stellen sich für die Patientinnen von heute nicht die gleichen Herausforderungen wie für diejenigen von morgen. Eine Gesellschaft mit einem wachsenden Anteil alter Menschen ist mit mehr chronischen, nicht-übertragbaren, oft auch lebensstilassoziierten Erkrankungen verbunden.
Die Pandemie mit COVID-19 zeigt gerade, wie schnell ein solches weltweites Geschehen – obwohl theoretisch voraussagbar – in der Praxis und im Leben Überraschungen bereithält und unsere Anpassungsleistung herausfordert. Stress und Themen der psychischen Gesundheit spielen eine immer grössere Rolle. Ein ganzheitlicher Blick gewinnt damit an Bedeutung.
Nicht zuletzt sind wir Teil einer Gesellschaft, die viele Rhythmen und Riten verloren hat und neue, auch individuellere Formen der spirituellen Einbindung sucht. Auf einer rationalen Ebene sind die Patienten von heute informierter, kritischer und erwarten eine Begegnung auf Augenhöhe mit gemeinsam getragenen Entscheidungen.
Auch die Digitalisierung ist ein Mega-Trend, der Veränderungen bringt: Sie ändert unsere Möglichkeiten genauso wie unsere Identität. Sie bringt paradoxerweise etwas Statisches in die Führung der Krankengeschichten durch die zunehmend geforderte standardisierte Erfassung von Daten. „Zwischenräume“ in Gesprächen oder Aktennotizen drohen verloren zu gehen. Gleichzeitig wird es immer einfacher, unsere Daten – sei es unsere DNA oder seien es Vitalparameter wie Bewegung, Herzschlag oder Schlaf – in die medizinische Versorgung zu integrieren.
Um die Qualität der Behandlung weiter zu entwickeln, werden wir auf künstliche Intelligenz angewiesen sein. Es entwickeln sich virtuelle Versorgungsformen, die ohne Arzt- Patienten-Kontakt auskommen. Damit wird aber gleichzeitig die Beziehungsmedizin wichtiger. Ärzte und Ärztinnen sollen in Zukunft primär das leisten, was künstliche Intelligenz eben nicht kann und das Menschliche ausmacht.
Die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Leistungen ist grösser als das Angebot. In der Bevölkerung ist sie tief verankert. Dieses Bedürfnis resultiert auch daraus, dass mit den komplementärmedizinischen Methoden meist ein Menschenbild verknüpft ist, das mit dem Begriff „Ganzheitlichkeit“ umschrieben wird. Nicht immer, aber doch oft, bedingt diese Ganzheitlichkeit auch mehr Zeit in der therapeutischen Beziehung.
Die Fortschritte der konventionellen Medizin und die damit verbundenen zunehmenden technischen Möglichkeiten und Spezialisierungen kontrastieren mit der erfahrenen Realität vieler Patienten und Patientinnen, deren chronisches Leiden nur ungenügend oder mit beträchtlichen Nebenwirkungen „kontrolliert“, aber nicht geheilt werden kann. Zudem liegt der Fokus der medizinischen Betreuung oft mehr auf einem Organsystem als auf dem Menschen in seiner auch subjektiv gefühlten und gedachten Erfahrung. Die Patientin erlebt sich dann in der Behandlung reduziert auf ein Objekt, und nicht als Individuum in seiner Lebendigkeit.
Ja und nein. Ein solcher argumentativer oder persönlich erfahrener Ausgangspunkt, der natürlich nie die Komplexität einer modernen naturwissenschaftlich begründeten Medizin abbildet, kann mitunter auch zu einer gefährlichen und verabsolutierten Idealisierung der Komplementärmedizin führen.
Ich sehe deshalb als Zukunft eine geglückte Symbiose dieser beiden Pole, die substituierend oder ergänzend eingesetzt wird auf der Basis von gegenseitigem Verständnis und Konsensus. Das bedingt, dass alle Ärztinnen und Ärzte in ihrem Medizinstudium auch Basiskenntnisse komplementärer Methoden auf universitärem Niveau erwerben.
Die Schweiz hat diesbezüglich mit der Umsetzung des Gegenvorschlags zur Initiative zur Förderung der Komplementärmedizin einen auch im internationalen Vergleich wegweisenden Prozess eingeschlagen. Es braucht die konstante Achtsamkeit und Ausdauer von Seite der Komplementärmedizin, um die immer noch sehr ungleichen Machtverhältnisse auszugleichen. Universitäre Forschung auf der Basis anerkannter wissenschaftlicher Grundlagen ist Voraussetzung dafür.
Ich wünsche ihr die gelungene Transformation und Weiterentwicklung der Anthroposophischen Medizin ins nächste Jahrhundert mit der Kraft, die ihr Begründer Rudolf Steiner ins beginnende 20. Jahrhundert getragen hat. In meiner Vision ist diese Kraft eine integrative, die an Raum gewinnt – nicht auf Kosten der Schulmedizin, sondern in Beziehung mit ihr, auf Augenhöhe. Die medizinischen Wissenschaften verstehe ich immer als Grenzwissenschaften im Raum zwischen Natur- und humanistischen Wissenschaften und Spiritualität.
In einer global verbundenen Moderne liegt die Bedeutung der Anthroposophie auch darin, dass ihr Begründer, verwurzelt im griechisch-römischen Denken, seine Erkenntnisse erweiterte mit dem Erfahrungsschatz fernöstlicher Kulturen. Wann, wenn nicht heute und morgen, sind wir mehr denn je angewiesen auf solche Grenzen überschreitende Geistesgrössen?