Die Zügel in die Hand nehmen

Die Zügel in die Hand nehmen

02. Dezember 2020 Seite drucken

Beim Blick auf 100 Jahre Klinik Arlesheim ist es folgerichtig, auf die starken Persönlichkeiten der zwei Frauen zu schauen, die die Gründung und Entwicklung der beiden Ursprungskliniken erst ermöglicht und deren Geschicke so sehr geprägt haben: Ita Wegman und Rita Leroi.

VERENA JÄSCHKE

„Wenn der Kutscher nicht flott fuhr oder wenn andere uns überholten, stieg Ita auf den Bock, nahm die Zügel in die Hände und übernahm die Führung.“ – so erinnert sich die Schwester Ita Wegmans an den täglichen einstündigen Schulweg mit der Pferdekutsche. Ein treffendes Bild für das überaus tatkräftige Leben dieser Frau.

Ita Wegman kam 1876 auf Java, im heutigen Indonesien, zur Welt und wuchs im grosszügigen Lebensstil der holländischen Kolonialisten auf; ihr Vater war Verwalter einer Zuckerplantage. Zur Zeit der Jahrhundertwende kam sie endgültig nach Mitteleuropa, erlernte in Holland und Deutschland Heilgymnastik und Massage und war einige Zeit in Berlin als Therapeutin tätig. Hier begegnete sie Rudolf Steiner. Er war es auch, der ihr zu einem Medizinstudium riet. Bereits dreissigjährig holte Ita Wegman die Matura in der Schweiz nach, absolvierte in Zürich das Medizinstudium und liess sich zur Frauenärztin ausbilden. 1917 eröffnete sie eine erste eigenständige Praxis und betrieb mit einer Kollegin eine Belegklinik. In diese Zeit fiel auch die Anwendung eines ersten Mistelpräparates „Iscar“, das Ita Wegman nach Anregungen von Rudolf Steiner mit dem Zürcher Apotheker Adolf Hauser zusammen entwickelte.

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Das Klinisch-Therapeutische Institut in den Anfangsjahren

Klinikgründung in Arlesheim

Das Zentrum der anthroposophischen Bewegung entstand in Dornach, und Ita Wegman suchte einen Ort, um in der Nähe Rudolf Steiners eine Klinik zu gründen. Am Pfeffingerweg 1 in Arlesheim war Ita Wegman das „kleine Häuschen in einem schönen Garten“ mit einem grossen Apfelbaum aufgefallen. Sie nahm auch hier die Zügel in die Hand: Sie klingelte und erzählte der Besitzerin von ihren Klinikplänen und dass ihr dieses Haus dafür geeignet erschiene. Im September 1920 erwarb Ita Wegman das Haus und liess es innert weniger Monate umbauen.
Der Name, den Rudolf Steiner der Klinik anfänglich gab, war gleichermassen Programm: Klinisch (am Krankenbett) - Therapeutisches (ambulant, Therapien) - Institut (Forschung, Entwicklung).
Das Wissen aus dem Medizinstudium an der Universität und die anthroposophische Menschenkunde Rudolf Steiners sollten miteinander verbunden werden – so das Ziel Ita Wegmans. Sie erarbeitete zusammen mit Rudolf Steiner in den Jahren bis zu dessen Tod 1925 die Grundlagen der Anthroposophischen Medizin und fassten ihre Erkenntnisse in dem Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ zusammen.

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v.l.n.r.: Madeleine van Deventer, Hilma Walter, Ita Wegman, Eberhard Schickler, Margarethe Bockholt

Engagement in verschiedenen Bereichen

In den Gründungszeiten der Klinik war noch wenig von dem vorhanden, was wir heute als Anthroposophische Medizin bezeichnen. Heilmittel, Therapien, neue Pflegeansätze – all das wurde erst entwickelt, vieles davon direkt am Krankenbett. Eine wesentliche Voraussetzung war reichlich vorhanden: jede Menge Pioniergeist und Tatendrang sowie der Wille, Neues zu schaffen und zu gestalten. Es kann hier nur streiflichtartig auf einige zentrale Dinge verwiesen werden.
Ita Wegman sorgte dafür, dass neue Heilmittel entwickelt werden konnten – der ursprüngliche Stammsitz der Weleda in Arlesheim wurde durch sie ermöglicht, indem sie die Liegenschaft am Stollenrain kaufte. Zugleich bestand sie auf einer eigenen Heilmittelherstellung direkt an der Klinik. Sie entwickelte neue Pflegeformen wie die Rhythmischen Einreibungen und sorgte mit den sogenannten Schwesternkursen zugleich dafür, dass es genügend Menschen gab, die diese Pflegemassnahmen auch anwenden konnten. Auch Ärztekurse wurden durchgeführt, so dass sich die Weiterentwicklung der neuen Medizin frühzeitig auf viele Schultern verteilte. Forschung, Lehre und klinischer Alltag sollten gleichermassen Raum haben.
Im Frühjahr 1922 erwarb sie den „Suryhof“ in Arlesheim, ursprünglich als Dependance der Klinik gedacht, aber bald schon genutzt für den „Sonnenhof“ als einem ersten Heim für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. 1936 verwirklichte sie mit dem Kurhaus Casa di Cura in Ascona die Idee, südlich der Alpen eine Heilstätte zu gründen.
Ihre letzten drei Lebensjahre verbrachte Ita Wegman in Ascona. Sie betreute Kranke und Erholungssuchende medizinisch und menschlich, nahm Emigranten auf, lud kriegsgeschädigte Kinder ein.

Selbstlosigkeit und Weltkenntnis

Ita Wegman nahm jeweils grossen Anteil am Weltgeschehen und interessierte sich für die Sorgen und Nöte der Menschen, sowohl in der Klinik als auch im Europa der dreissiger Jahre. Davon zeugt nicht zuletzt eine Vielzahl der über 50‘000 Briefe, die heute im Ita Wegman Institut/Archiv auf dem Klinikgelände aufbewahrt sind und für Forschungszwecke zugänglich gemacht werden. Unter anderem engagierte sie sich dafür, dass jüdische Kinder in die Schweiz kommen, dass erschöpfte Mitarbeitende von Kinderheimen in Deutschland nach Arlesheim zur Erholung kommen konnten, dass Mitarbeiterinnen aus Arlesheim in andere Institutionen geschickt wurden, weil sie dort gebraucht wurden. Für so viele Menschen hatte sie ein offenes Ohr und Herz – nicht nur medizinisch-therapeutisch, sondern auch alltäglich-menschlich.

Sie schaute in erster Linie darauf, dass es den Kranken und Mitarbeitenden gut ging. Dass sie selbst auch genug Lebensraum hatte, dafür mussten andere besorgt sein. So veranlasste Rudolf Steiner den Plan für eine Wohnbaracke (das heutige Ita Wegman Haus), nachdem sie anspruchslos über lange Zeit in ihrem Sprechzimmer gelebt hatte. Ita Wegman unternahm bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgedehnte Reisen, erkundete sowohl die Balkanländer als auch die Mysterienstätten des Altertums, nahm Landschaften und Kulturen in sich auf und kam jeweils mit neuen Zukunftsideen nach Arlesheim zurück.

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 Plan zum Neubau einer Wohnbaracke, Juli 1924 (das heutige Ita Wegman Haus)

Unterschiede und Parallelen in den Lebenswegen

Rita Leroi kam 1913 als Tochter des Journalistenehepaars Adolf und Maria Rettich zur Welt, wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf und gehörte zur ersten Generation von Kindern, die die Stuttgarter Waldorfschule besuchten. Dies war eine deutlich andere Lebenssituation als die von Ita Wegman. Doch es gibt einige Parallelen in den Biografien. So zeichneten sich beide Frauen schon in ihrer Kindheit durch Wissensdrang, enorme Willenskräfte und Begeisterungsfähigkeit aus.
Auch Rita Leroi erlernte zunächst einen anderen Beruf; sie wurde Sekretärin, bevor sie 1933 mit dem Medizinstudium begann. Bereits zwei Jahre später wurde sie durch die Heirat mit Hans von May Schweizerin und setzte ihr Studium in Bern fort, wofür auch sie die Eidgenössische Matura nachholen musste.
Alexandre Leroi, ab 1954 ihr zweiter Ehemann, war seit 1934 am Klinisch-Therapeutischen Institut in Arlesheim tätig. Er war ebenfalls Schüler der Stuttgarter Waldorfschule und wurde auf Rita von May durch einen Beitrag im Rundbrief der Ehemaligen aufmerksam. Sie folgte seiner Einladung an das Klinisch-Therapeutische Institut, aus den geplanten vier Wochen wurden 18 Monate, die sie letztlich ihren Lebensweg anpassen liessen. Sie entschied sich für Alexandre Leroi, beschloss aber zugleich, ausserhalb der Arlesheimer Klinik medizinisch zu arbeiten. 1946 eröffnete sie eine Praxis in Basel, die schon bald sehr erfolgreich war. Auch dies eine Parallele zu Ita Wegman, die 1921 nahe der Schifflände eine Praxis führte, die für die Klinik in den Anfangsjahren eine ökonomische Basis bildete.

Krebskrankheiten im Fokus

Die Nähe zu Arlesheim ermöglichte Rita van May, sich der Krebskrankheit und Misteltherapie zu widmen, jenem Interessengebiet, das sie mit Alexandre Leroi stark verband. Sie wurde 1951 in den Vorstand des Vereins für Krebsforschung gewählt, der 1935 durch Ita Wegman und Werner Kaelin sowie Rudolf Hauschka und Lina Kaelin gegründet worden war, um das Potenzial der Mistel für die Behandlung von Krebserkrankungen noch intensiver zu erforschen. Sie unterstützte Alexandre Lerois Idee, eine Station zur Behandlung von Krebskranken innerhalb des Klinisch-Therapeutischen Instituts aufzubauen. Diese Idee stiess im Institut jedoch auf heftigen Widerstand. Da alle Einigungsversuche in den Fragen der Behandlung Krebskranker und der Entstehung einer Schulklinik fehlschlugen – es ging um die Verbindung von Klinik, Lehre und Forschung in Bezug auf die Krebstherapie – trieb das Ehepaar Leroi den Impuls voran, eine eigene Klinik zu gründen.
Rita Leroi war es zu verdanken, dass zwischen 1955 und 1966 viele Krebskranke in der Basler Frauenklinik eine zusätzliche Iscador-Therapie erhielten.

Eine zweite Klinik in Arlesheim

Im September 1963 war es soweit: Die Lukas Klinik, die der Verein für Krebsforschung mit Hilfe grosszügiger Gönner bauen liess, wurde eröffnet. Rita Leroi übernahm zunächst gemeinsam mit Werner Kaelin die Leitung der neuen Klinik und gab dafür ihre Praxistätigkeit in Basel auf. Doch wegen unterschiedlicher Ansichten im medizinischen Bereich kam es schon bald zu einer Trennung. Von da an kümmerte sich Rita Leroi um die Geschicke der Lukas Klinik. Bis zur Eröffnung des Erweiterungsbaus der Klinik kannte Rita Leroi alle Patientinnen und Patienten persönlich und überprüfte jeden einzelnen Therapieschritt. Dem Verlust ihres Mannes durch dessen Tod 1968 – er konnte die Erweiterung der Klinik nur noch von seinem Krankenlager in der Klinik verfolgen – begegnete sie durch noch mehr Arbeit. Sie übernahm zusätzlich die Leitung des Forschungsinstituts Hiscia.

Weitere Unterschiede und Parallelen

Auch Rita Leroi war viel unterwegs. Auf Vortragsreisen versuchte sie, die Misteltherapie auch bei nicht-anthroposophischen Ärztinnen und Ärzten im In- und Ausland bekannt zu machen und das Vertrauen in die Anthroposophische Medizin zu stärken. Wie Ita Wegman nahm sie Anteil am Weltgeschehen und formulierte unter anderem im Jahresbericht des Vereins für Krebsforschung nach der Katastrophe von Tschernobyl: 
„Wer nach dem Erfahren einer schlimmen Nachricht, ohne etwas zu ändern, wieder zur Tagesordnung übergeht, verstärkt die zähe Masse des Gewordenen und hindert allen Fortschritt.“

Entwicklung war ihr wichtig, es ging ihr darum, Entstandenes nicht zu konservieren, sondern zu verbessern. Mit diesem Fokus auf das Vorwärtsgehen und Weiterentwickeln ähnelte ihr Lebensmotto dem von Ita Wegman. Bei allen Ähnlichkeiten, die sich in den Lebensläufen dieser beiden starken Persönlichkeiten entdecken lassen, bleibt ein Unterschied zentral: Rita Leroi konzentrierte sich ganz auf die Spezialisierung, auf die Behandlung von Krebserkrankungen. Ita Wegman orientierte sich immer auf das Ganze und Universelle in der Medizin.

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Dr. med. Rita Leroi

Anfang der vierziger Jahre traf Rita Leroi ihre Eurythmielehrerin Nora von Baditz in Ascona und berichtet: "Kommen Sie mit mir, Sie müssen Frau Dr. Wegman kennenlernen", sagte sie. In meinem relativ kurzen anthroposophischen Dasein hatte ich bisher nur verschwommene Gerüchte über Ita Wegman gehört und war etwas skeptisch. Nora von Baditz (führte mich) zu einer grossen Gestalt, stellte mich als Medizinstudentin vor und ich wusste: Das ist sie! VolI Güte leuchteten zwei helle Augen, mit warmer Geste erfasste sie meine Hand, und ich wusste mich angenommen von einer strahlenden, überragenden und doch so ganz menschlichen Persönlichkeit. Damals wusste ich noch nicht, dass die Initiative von Ita Wegman auf dem Gebiet der Krebsheilung auch mein weiteres Schicksal bestimmen sollte.

Bericht von Rita Leroi über ihre erste Begegnung mit Ita Wegman im von Nora von Baditz zusammengestellten Buch "Aus Michaels Wirken" (J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1977)

Literatur:
J.E. Zeylmans van Emmichoven „Wer war Ita Wegman“, Band 1, 1990
Silke Helwig „Es geht um mein Leben – zum 100. Geburtstag von Rita Leroi“
Peter Selg „Ich bin für Fortschreiten“, Dornach 2002
„Quinte“ Ausgaben Nr. 29 und 38

Autor / Autorin

Marketing und Kommunikation, Klinik Arlesheim AG
Marketing und Kommunikation, Klinik Arlesheim AG
kommunikation@klinik-arlesheim.ch
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