Werfen wir zuerst einen Blick zurück. Nach der Gründung durch Ita Wegman wurde die Klinik in den ersten Jahrzehnten hauptsächlich von Frauen geleitet, in der Lukas Klinik gab es das gleiche Bild. Entgegen den Ursprungsjahren der Klinik sind heute die obersten Leitungspositionen vornehmlich mit Männern besetzt. Lässt sich dafür eine Erklärung finden?
Vor 100 Jahren hatte die Frauenbewegung bereits einige Erfolge erreicht, in Deutschland wurde das Frauenwahlrecht 1918 eingeführt, in Österreich 1920. Zu dieser Zeit gab es auch in der Schweiz erste kantonale Abstimmungen zum Frauenstimmrecht. Es sollte aber noch fünf Jahrzehnte dauern, bis dieses schweizweit angenommen wurde und weitere Jahre und Jahrzehnte bis zur tatsächlichen Umsetzung. Hingegen war das Frauenstudium im deutschsprachigen Raum zuerst in der Schweiz möglich.
Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg nahm der Anteil der berufstätigen Frauen stark zu. Doch war dies weder mit Gleichberechtigung noch mit der Gleichstellung von Frauen und Männern verbunden, sondern mit dem kriegsbedingten Fehlen der männlichen Arbeitskräfte. Bereits im 19. Jahrhundert setzten sich Persönlichkeiten wie Henry Dunant in der Schweiz oder Rudolf Virchow in Deutschland – beide beeinflusst durch Florence Nightingale – für die Einrichtung von Krankenpflegeschulen ausserhalb kirchlicher Institutionen ein. Denn es gab vor 100 Jahren noch in vielen Kliniken und Pflegeinstitutionen Ordensschwestern, die die Pflege der Kranken übernahmen.
In der Arlesheimer Klinik haben die Frauen von Anfang an ihren Beruf in einer sehr modernen Art ergriffen und gelebt. Den Frauen wurde als Pflegende Verantwortung übertragen und es wurde viel Wert auf Ausbildung gelegt – so sorgte Ita Wegman schon bald nach der Klinikgründung für sogenannte „Schwesternkurse“ an der Klinik. Unter Ita Wegmans Leitung wurden an der Klinik verschiedene Therapierichtungen entwickelt, wie Heileurythmie, Rhythmische Massage, Wickel und Auflagen. An dieser Entwicklung waren viele Menschen beteiligt. Vielleicht ist es diese Selbstverständlichkeit des Einbezugs von vielen – Männern und Frauen –, die man heute noch spürt. „Die Menschen heute profitieren von der Geschichte, von der Entwicklung und haben gleichzeitig einen Gestaltungsfreiraum, wobei das definitiv geschlechterunabhängig ist. Es geht immer um den individuellen Menschen, um seine Aufgaben, seine Verantwortung, seinen Weg“, fasst Seija Zimmermann zusammen.
Frauen in der Klinik ArlesheimDie Klinik Arlesheim hat 410 Mitarbeiterinnen von total 526 Mitarbeitenden. Das entspricht einem Anteil von rund 78 %. In der Pflege beträgt der Frauenanteil sogar gut 85 %, bei den Therapien rund 82 %. Dagegen sind in der Klinik 33 Ärzte und 29 Ärztinnen tätig, ein Frauenanteil von knapp 47 %. Bei Stellenbesetzung hat das Geschlecht bei uns keine Relevanz. In erster Linie muss die Funktion mit der geforderten Fachkompetenz, sowie mit allen für die Klinik relevanten Fähigkeiten besetzt werden. Durch unser modernes Funktionsbewertungssystem in der Klinik, wird die jeweilige Funktion berücksichtigt, auch hier ist es so, dass Frauen und Männer in derselben Position völlig gleichwertig behandelt werden. Im Bereich Pflege, der traditionell auch heute noch eher ein Frauenberuf ist, bekommen wir mehr Bewerbungen von Frauen. Bei allen anderen Stellen ist der Anteil weiblicher und männlicher Bewerbungen recht ausgeglichen. Sabine Merholz
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In den beiden obersten Führungsgremien arbeiten derzeit zwei Frauen und acht Männer. Diese Verteilung entspricht in etwa dem generellen Ungleichgewicht von Frauen und Männern in höheren Kaderpositionen in Schweizer Unternehmen. Anders ist die Situation im mittleren Management der Klinik. Hier ist das Verhältnis von Frauen und Männern in einer Vorgesetztenfunktion ausgeglichen. Bei den Stationsleitungen (ärztlich und pflegerisch) überwiegen dagegen eindeutig die Frauen. Es ist deutlich: Trotz hohem Frauenanteil des Klinikpersonals und trotz Chancengleichheit konnte nicht erreicht werden, mehr Frauen für das Top- Management zu gewinnen.
„Wir sind mit einer Gründerfrau in Bezug auf Genderfragen privilegiert. Daniela Bertschy |
Dabei gab es zur Zeit der Umwandlung der Klinik in eine Aktiengesellschaft im Jahr 2008 deutlich mehr Frauen als heute im Verwaltungsrat. Im Lauf der Jahre hat sich dies gewandelt. Doch die zunächst als vermeintliches „Missverhältnis“ erkennbare ungleiche Verteilung der Geschlechter im obersten Management muss nicht unbedingt problematisch sein. Die Art der Zusammenarbeit sowohl im Verwaltungsrat als auch in der Klinikleitung lässt das Genderbewusstsein in den Hintergrund treten, bestätigen die beiden Gesprächspartnerinnen. „Es sind Menschen, die sich ihrer Verantwortung stellen. Man nimmt sich gegenseitig in der Funktion und mit den Fähigkeiten wahr. Es geht nicht darum, ob Frau oder Mann“, berichtet Seija Zimmermann. Daniela Bertschy erläutert: „Ein wesentlicher Grund dafür liegt im wertschätzenden Umgang miteinander und in einer Achtsamkeit, die in der anthroposophischen Klinik stark verankert und klar genderunabhängig ist.“
„Gesundheitsberufe ermöglichen es, rundum für den Menschen da zu sein – Seija Zimmermann |
Inwieweit diese Haltung in der Klinik mit dem hier vorherrschenden Menschenbild zu tun hat oder auch mit dem schon von Ita Wegman gepflegten Ansatz, die Menschen – egal ob Mann oder Frau – entsprechend ihren Fähigkeiten einzusetzen, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Seija Zimmermann erzählt: „Wenn ich ehemalige Mitarbeiterinnen erlebe, die mittlerweile in hohem Alter sind, strahlen diese ein Selbstbewusstsein aus – durch ihre Arbeit, ihr Lebenswerk. Das hat für mich etwas Hochmodernes. Sie stecken nicht in Mustern von Geschlechterwettstreit.“
Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch in der Klinik Arlesheim gab und gibt es unterschiedliche Ansichten, Meinungsverschiedenheiten, Konflikte. Wie überall, wo viele verschiedene Menschen zusammenarbeiten, muss um bestmögliche Lösungen durchaus auch gerungen werden. Doch dies ist unabhängig von der Geschlechterfrage.
Vielleicht hängt das mit dem Geist Ita Wegmans zusammen und der Tatsache, dass von Anfang an die Frauen eine mindestens gleich starke Position hatten. In der Pflege gibt es nach wie vor überwiegend Frauen in der Klinik, der allmähliche Zuwachs an männlichen Pflegenden wird sehr begrüsst. Im ärztlichen Bereich konnten in letzter Zeit viele top ausgebildete Frauen angestellt werden, was Daniela Bertschy sehr freut.
Wie sieht das bei Stellen mit Führungsverantwortung aus? „Es kann nicht darum gehen, unbedingt eine Frau anzustellen, sondern es muss darauf geschaut werden, welche Kompetenzen und Qualitäten notwendig sind“, ist Daniela Bertschy überzeugt und formuliert zugleich: „Die Klinik war immer mutig genug, den geeigneten Menschen zu wählen und keine Quotenfrau.“
Warum sich nur wenige Frauen auf Führungspositionen bewerben, bleibt ein Stück weit Spekulation. Dass Frauen grundsätzlich die gleichen Chancen haben in der Klinik, davon sind beide überzeugt und dafür werden sie sich auch weiter einsetzen.
Dr. med. Seija Zimmermann Kinderärztin in Finnland viele Jahre Vorstandstätigkeit Allgemeine Anthroposophische |
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Daniela Bertschy Mitglied Klinikleitung |